Digitale Geschichten

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Ein Kontinent wird grau. Warum KI die (einzige?) Chance für Europas alternde Gesellschaft ist

Europa wird alt. Schneller, als wir es wahrhaben wollen. Heute leben 449 Millionen Menschen in der EU. In zwei Jahren sind wir am Höhepunkt angelangt – danach schrumpfen wir. Bis zum Jahr 2100 werden es 27 Millionen weniger sein. Gleichzeitig steigt das Durchschnittsalter auf über 50. Die Zahl der über 80-Jährigen verdreifacht sich. Heißt: Immer weniger Erwerbstätige müssen immer mehr Ältere versorgen. Das ist nicht ferne Zukunft, sondern der Fahrplan der nächsten Jahrzehnte.

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Das sind die nackten Zahlen. Ein Kontinent wird grau.

Wir sehen es überall im Alltag

Als Beispiel stellvertretend für Prozesse überall: Der Antrag auf Hinterbliebenenrente für meine Mutter. Klingt nach Routine. War es nicht.

In Heilbronn gibt es keine Online-Terminvergabe. Nur das Telefon. Mehrfach versucht, niemand hebt ab. Irgendwann: eine genervte etwas vorwurfsvolle Stimme, die mich missmutig fragt, ob ich auch wüsste, welche Unterlagen ich mitbringen soll. Ich genauso missmutig zurück: „Ja sicher, steht doch auf der Webseite.“ Wenigstens habe ich für die nächste Woche einen Termin bekommen, keine Selbstverständlichkeit, wie sich später herausstellen wird.

Im persönlichen Gespräch dann eine Überraschung: Dieselbe Person, freundlich und mitfühlend. Sie erklärt mir, warum es keinen Online-Service gibt: „Dann werden zu viele Termine vergeblich gemacht, denn viele bringen die Unterlagen nicht mit, dann war der Termin umsonst.“ Und Kommunikation per Mail? „Die meisten, die hier Rente beantragen, haben keine Mailadresse.“ Ich merke wieder einmal, in welcher Bubble ich lebe.

Ich erfahre außerdem, dass nur zwei Mitarbeiterinnen alle Fälle für die Stadt Heilbronn bearbeiten. Sie fehlen fast nie, weil der Termin wichtig ist für die Rente der Hinterbliebenen. Ich bin betroffen und schäme mich ein wenig für meine Ungeduld, weil nicht sofort jemand ans Telefon gegangen ist.

Warum erzähle ich das? Es ist ein Beispiel von vielen, das zeigt, warum wir alle Prozesse schnell und radikal ändern müssen. Wir haben zu wenige Menschen, die Prozesse sind den Bürgern unverständlich.

Bürokratische Denkmuster aufbrechen

Wir haben mit etwa 50% eine der höchsten Staatsquoten der Welt, dennoch erleben wir überall Mangel. Die Rentenstelle ist nur ein kleines Beispiel von vielen. Ich habe mich gefragt: Warum muss der Hinterbliebene mehr als 10 Dokumente mitbringen, um die Hinterbliebenenrente zu beantragen? Die Sterbeurkunde kann zwischen den Behörden weitergegeben werden, die Renten sind der BfA bekannt. Wozu braucht es die Versicherungskarte der Krankenkasse?

Es ist kompliziert.

Mehr als nur ein Behördenproblem

Die Rentenstelle ist nur ein Beispiel von vielen. Hier ein paar persönliche Erlebnisse, stichwortartig nur aus dem letzten Jahr:

  • Gesundheitssystem: Arztpraxen ohne funktionierende Websites, Telefone ständig besetzt oder gar nicht verfügbar, wichtige Informationen nur per Aushang in der Praxis.
  • Unternehmen: Bewerbungsprozesse, die Wochen dauern. Kundenservices, die mehr Frust als Lösung produzieren, Bots die oft lachhaft einfache Fehler machen.
  • Versicherungen, Banken, Energieversorger: komplizierte Sprache, Formulare, Wiederholungen.

Im Alltag fragen die meisten von uns eine Generative KI. Lassen sich komplexe Zusammenhänge erklären, einfach per Sprache. Sobald wir in die Prozesswelt eintauchen, ist es immer das Gleiche: Die Prozesse passen nicht mehr zur Lebenswirklichkeit. Und wenn weniger Menschen mehr leisten sollen, dann bricht das System – egal ob Verwaltung oder Unternehmen.

Was hat das alles mit Generativer KI zu tun?

Die Prozesse der Rentenstelle oder der Krankenkasse – sie stehen hier stellvertretend für die vielen anderen Vorgänge der Bürokratie – mögen ihre Berechtigung haben. Wenn sie von den Menschen, die hier arbeiten, nicht mehr bewältigt werden können und die Bürger Probleme haben, diese zu verstehen, dann passen sie nicht. Daran gibt es nichts zu diskutieren. Bleibt es so, enden wir in einer Sackgasse, in der die Wartezeiten immer länger werden und der Frust der Bürger steigt.

Denken wir uns die Welt mit Generativer KI. Wie sähe es dann aus?

Was, wenn wir es anders angehen?

Stell dir vor, bevor ich in die Rentenstelle gehe, spreche ich mit einem digitalen Bürger-Bot. Er erklärt mir in klarer Sprache, welche Unterlagen ich brauche. Er vereinbart den Termin, erinnert mich rechtzeitig und prüft, ob alles vollständig ist. Für mich: weniger Stress, denn ich habe sofort einen kompetenten Ansprechpartner. Für die Behörde: weniger Fehlschläge, mehr Zeit für die wirklich komplizierten Fälle.

Das Entscheidende: Technologie ersetzt nicht das Menschliche – sie macht den Weg dorthin frei.

Die eigentliche Lektion

Wir dürfen KI nicht als Wundermaschine sehen, die „irgendwie schon alles kann“. Ihre Kraft entfaltet sie, wenn wir sie auf Menschen ausrichten: Sprache statt Fachjargon, Erklärung statt Formular.

Damit das gelingt, braucht es Zusammenarbeit. Daten müssen aufbereitet werden, Gesetze in klare Logik übersetzt, Technologie sinnvoll eingebaut – und Menschen aus der Praxis müssen mitreden, sonst bleibt alles graue Theorie. Die klassische agile Arbeitsweise. Aufgaben lösen in vernetzten Teams statt in seriell arbeitenden Abteilungssilos.

Warum das alle betrifft

Es geht nicht nur um Heilbronn. Nicht nur um Rentenstellen.

Jede Organisation in Europa steht vor derselben Aufgabe:

  • weniger Personal, mehr Erwartungen.
  • mehr Komplexität, weniger Geduld.
  • Menschen, die Orientierung brauchen und Systeme, die sie ihnen bisher nicht geben.

Wer jetzt sagt: „Das betrifft uns nicht“ – der irrt. Ob Krankenhaus, Mittelständler oder Konzern: Überall, wo Abläufe erklärt, Anträge bearbeitet, Fragen beantwortet werden, braucht es neue Wege.

Europa läuft in eine Kapazitätslücke. Mehr Hände werden wir nicht haben. Unsere einzige Chance: bessere Köpfe – unterstützt von Maschinen, die verstehen. Generative KI ist nicht die Lösung für alles. Aber sie ist unser stärkster Hebel, um Prozesse wieder menschenfreundlich zu machen.

Europa wird grau. Aber grau ist kein Schicksal.

Wir stehen am Scheideweg. Entweder wir halten an Prozessen fest, die immer weniger Menschen bewältigen können – und sehen zu, wie Wartezeiten, Frust und Versorgungsnotstände wachsen. Oder wir gestalten neu: mit Mut, mit Technologie, mit dem klaren Ziel, Menschen zu entlasten. Wenn wir jetzt anfangen, Technologie so einzusetzen, dass sie menschlicher macht, haben wir eine echte Chance auf bessere Lebensqualität in der Zukunft. Auch in einem alternden Europa.

Die neuen Kompetenzen

Für die IT-Abteilungen heißt das: Sie müssen eine völlig neue Rolle annehmen. Weg vom Verwalten alter Systeme, hin zum aktiven Möglichmacher. Es beginnt damit, die Datenlandschaft aufzuräumen: Welche Quellen haben wir, wie verlässlich sind sie, wer trägt die Verantwortung? Erst wenn diese Fragen geklärt sind, entsteht eine Single Source of Truth – die Basis für jedes vertrauenswürdige System.

Darauf baut die eigentliche Arbeit: eine digitale Wissensbibliothek, in der Gesetze, Formulare und Richtlinien nicht als starre PDFs abgelegt werden, sondern in kleinste Bausteine zerlegt, mit Metadaten versehen, zitierfähig gemacht und über den ganzen Lebenszyklus hinweg gepflegt werden.

Doch damit allein ist es nicht getan. Prozesse enden nicht an Abteilungsgrenzen. Deshalb müssen Schnittstellen sauber aufgesetzt werden: von der Terminvergabe bis zur Akte, von der Identifizierung bis zum digitalen Postkorb. Nur wenn diese Wege durchgängig sind, entsteht ein End-to-End-Erlebnis, statt vieler kleiner Inseln.

Barrierefreiheit muss eine neue Bedeutung gewinnen

Und immer gilt: UX first. Sprache, Tonalität, Barrierefreiheit – all das entscheidet darüber, ob ein System genutzt wird oder nicht. Für viele ältere Bürgerinnen und Bürger wird der Zugang über Telefon oder Sprache der Schlüssel sein. Wenn Maschinen menschlich sprechen, sinkt die Hürde dramatisch.

Gleichzeitig braucht es klare Leitplanken: Guardrails, Haftung, Eskalationspfade. Systeme müssen wissen, wann sie an ihre Grenze kommen und dann nahtlos an Menschen übergeben. Das alles darf nicht in endlosen Meetings stecken bleiben. Der Weg führt nur über Pilotprojekte, die schnell live gehen und in der Realität getestet werden. Erst dort lernen wir, was wirklich funktioniert.

Und schließlich: Change und Befähigung. Mitarbeitende dürfen nicht zu Zuschauern der neuen Systeme werden. Sie müssen zu Case-Ownern werden – Menschen, die mit der Technik gemeinsam Verantwortung tragen und ihre Rolle aktiv neu gestalten.

Denn genau das zeigt:

Es geht um mehr als KI. Es geht um Haltung, um Zusammenarbeit, um uns alle.

Andererseits ist die Hürde vielleicht geringer, als viele glauben. Denn Maschinen sprechen ja nun menschliche Sprache. Aus Nutzersicht: Wir brauchen im Grunde nur unsere Stimme, um eines der machtvollsten Instrumente menschlicher Technologieentwicklungen zu benutzen.

Exponentielle Veränderung geht alle an.

What a time to be alive.