Bildung wird nicht modern, wenn wir Ipads an Schulen einführen oder Whiteboards statt Tafeln. Bildung wird zeitgemäß, wenn wir unsere Denkmuster sprengen. Wenn wir alles in Frage stellen.
Einer dieser Menschen, die radikal neu denken, ist Matthias Kostrzewa. Unsere Wege haben sich gekreuzt, weil ich an der Professional School of Education der Ruhr-Universität Bochum einen Workshop für Lehrer:innen durchgeführt habe. Matthias ist dort Digitalisierungsbeauftrager und zudem freier Medienberater für Schulen und Bildungseinrichtungen. Ich habe Matthias in meinen Podcast eingeladen. Der nachfolgende Artikel lässt das Gespräch noch einmal Revue passieren.
„Eine schlechte Pädagogik digitalisiert, bleibt schlechte digitale Pädagogik.“
Damit steigt Matthias in das Gespräch ein. Recht hat er. Wir unterliegen immer noch der Illusion, dass Lernen im Digitalen eine Frage der Werkzeuge ist. Die klassischen „Ipads an Schulen“. Es geht aber viel tiefer, denn diese Werkzeuge verändern das Lernen an sich, sie schaffen neue Möglichkeiten.
Es fängt schon beim Lesen an. Ob ich ein Buch gedruckt lese oder auf einem E-Book-Reader oder Tablet, macht einen Unterschied. Das gedruckte Buch lädt zum Eintauchen ein, zu Fokus, zu Tiefe. Digitale Endgeräte eröffnen andere Wege: Querverweise, multimediale Inhalte, neue Wissenszweige, die sich im Moment des Lesens öffnen lassen. Das Entscheidende dabei: keine Wertung. Jede Form hat ihre Berechtigung. Es kommt auf den Menschen an, auf den Kontext, auf das Thema.
Doch das ist nur der Anfang. Die Rolle der Lehrenden verändert sich fundamental.
Wissen ist nicht mehr exklusiv bei einer Lehrkraft.
Kinder tragen mit Smartphones permanent Zugang zu Informationen in der Tasche. Lernen wird weniger zu „Stoff“ und mehr zu: Bedeutungsgebung, Navigation in Informationsfülle, Kritischer Reflexion, der Fähigkeit, gute Fragen zu stellen und der Selbstregulation.
Wissen ist nicht mehr exklusiv bei einer Lehrkraft verortet. Wenn Kinder mit ihren Smartphones permanenten Zugang zu Informationen in der Tasche tragen, verschiebt sich Lernen weg vom reinen „Stoff“ hin zu etwas anderem: zur Fähigkeit, Bedeutung herzustellen, sich in Informationsfülle zu orientieren, kritisch zu reflektieren, gute Fragen zu stellen und sich selbst zu regulieren. Genau hier liegt heute die eigentliche Aufgabe von Lehrenden.
Kinder brauchen Lernsettings, die zu ihnen passen und nicht umgekehrt. Matthias erzählt von Studien (Uta Hauck-Thum, Fabian Franz), die zeigen: starke Leser brauchen Ruhe und Abschottung, schwächere Leser profitieren von digitalen Materialien.
Kompetenzen werden nicht vermittelt, sie entstehen durch Erfahrung
Matthias ist hier sehr klar. Kompetenzen kann uns letztlich nur eine Person beibringen: wir selbst. Durch Erleben, durch Ausprobieren, durch Erfahrung. Damit verschiebt sich erneut die Rolle der Lehrenden. Es geht weniger darum, Wissen zu übertragen, und mehr darum, Räume zu öffnen, Möglichkeiten sichtbar zu machen. Genau hier kommt ein Thema ins Spiel, das mir besonders wichtig ist: Individualisierung. Wenn wir durch Erfahrung lernen, muss Lernen individueller werden.
Schule ist davon heute weit entfernt. Matthias beschreibt die traditionelle Schule mit den „7G“: gleiches Alter, gleiche Lehrkraft, gleicher Raum, gleiches Material, gleiche Ziele, gleiche Zeit, gleiche Beurteilung. Ein Modell, das aus der industriellen Logik stammt, als Menschen wie Maschinen wiederkehrende vorhersehbare Aufgaben erledigen mussten. Diese Zeit verlassen wir.
Die preußische Logik des Schulsystems
Matthias sagt es ganz klar: Schulen sind strukturell an preußische Logiken gebunden:
- Flure, Klassenzimmer, Glocken: alles stammt aus der Industrieära
- Innovation wird häufig durch Bürokratie blockiert
- Verantwortlichkeiten werden weitergereicht („Ich brauche erst die Erlaubnis von…“)
Matthias’ Haltung: Wir müssen bereit sein, die Grundfesten des Systems infrage zu stellen. Das hat beispielsweise Stefan Ruppaner mit der Allemannenschule in Wutöschungen gemacht. Dort ist der Raum die dritte Lehrkraft. Räume beeinflussen Kreativität, Fokus, Verhalten, Mut, sozial-emotionale Entwicklung. Schule der Zukunft muss: flexible Räume bieten, die sich an die Lerninhalte und die Bedürfnisse der Lernenden anpassen:
- Konzentration ermöglichen
- Rückzug zulassen
- soziale Lernorte schaffen
- Projektarbeit fördern
Das gilt nicht nur für Schüler, auch Lehrer benötigen adaptive Arbeitsumgebungen.
Wer Eigenverantwortung gelernt hat, wird in der digitalen Arbeitswelt aufblühen
Ich selbst habe die gleichen Prinzipien in der Arbeitswelt erlebt. Dort wird es unter dem großen Begriff „New Work“ zugeordnet. Auch hier spielen Räume eine Rolle. Remote Work oder Büro? Darauf gibt es keine pauschale Antwort, es hängt von den Aufgaben ab. Immer mehr neue Aufgaben, Erschließung neuer Geschäftsfelder im hochkomplexen Umfeld erzwingt mehr Selbstorganisation als Top-Down Command/Control. Führung wird Ermöglicher statt Ansager. Die Großraumbüros mit seriellen durch Trennwände voneinander abgeschotteten Schreibtischen sind ein Relikt einer untergehenden Zeit.
Kinder, die gelernt haben, ihren Lernraum zu wählen, werden später Menschen, die ihre Arbeitsumgebung selbst sinnvoll gestalten können. So schließt sich der Kreis. Ein System, das Kreativität, Selbstwirksamkeit und situatives Denken fördert, erzeugt die Talente, die Digitalisierung, KI und komplexe Organisationen brauchen.
Überfrachtete Lehrpläne verhindern Exzellenz
Matthias würde gerne die Lehrpläne „entschlacken“, er sieht hier viel zu viel Ballast, den wir nicht für unser Leben brauchen. Der Mathematiker stellt die Frage, ob alle Schüler die binomischen Formeln lernen müssen? Warum ist das Ziel von Schule, eine Normalverteilung der Noten zu erreichen, also zum Mittelmaß zu erziehen? Wir brauchen Exzellenz, egal ob im Handwerk oder in den Naturwissenschaften. Zitat: „Wer nachts in den Sternenhimmel schaut und das Universum betrachtet, der wird schnell merken, dass er Wissen in Mathematik und Naturwissenschaften braucht. Das ist Lernfreude, die wir brauchen, wenn es mal schwierig wird. Lernfähigkeit wird auch durch Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen gewonnen, wie Matthias selbst im Mathematikstudium erleben durfte und ich im Ingenieurstudium. Ich erinnere mich noch gut an diese harten Zeiten.
Scheitern gehört zum Lernen
Scheitern gehört zum Lernen. Das klingt wie eine Binsenweisheit. Und doch ist es in unserem Bildungssystem immer noch mit Scham besetzt. Fehler werden bewertet, markiert, archiviert. Nicht als Lernschritte, sondern als Defizite. So wird aus einem notwendigen Prozess oft ein lebenslanges Trauma.
Dabei ist Scheitern eine der wichtigsten Erfahrungen, die wir machen können, wenn das Umfeld stimmt. Wenn da Menschen sind, die an uns glauben. Lehrende, die Potenzial sehen, bevor wir es selbst erkennen. Räume, in denen Fehler normal sind. In denen Ermutigung wichtiger ist als Bewertung.
Ohne diese Erfahrung lernen wir nicht, zu wachsen. Wir lernen, uns zu verstecken. Wir lernen vor allem keine innere Stärke, kein Bewusstsein unserer Stärken, Schwächen und keine Resilienz.
Zukunftsfreude entsteht durch Visionen
Zukunftsfreude entsteht nicht von selbst. Sie entsteht dort, wo Menschen das Gefühl haben, dass das Morgen gestaltbar ist. Dass es sich lohnt, Verantwortung zu übernehmen. Dass Anstrengung Sinn ergibt. Matthias und ich sind uns einig: Von Erkenntnis zur Umsetzung kommen wir nur, wenn wir als Gesellschaft wieder lernen, in Visionen zu denken. Wenn wir aufhören, Zukunft ausschließlich als Risiko zu beschreiben. Angst lähmt. Sie macht klein. Sie erzeugt Verwaltung statt Gestaltung.
Was es braucht, ist ein gemeinsames Bild davon, wie ein gutes Aufwachsen aussehen kann. Eine Gesellschaft, die ein Kind vom ersten Tag an trägt. In der Institutionen nicht nebeneinander arbeiten, sondern miteinander. In der Bildung, Verwaltung, Familie und soziale Systeme gemeinsame Werte und Ziele teilen und miteinander kommunizieren.
Ohne diese Vision bleibt Veränderung Stückwerk. Mit ihr, kann etwas Neues, Großes entstehen.
Lernen braucht Neugier, Beziehung und Bedeutung
Matthias sagt einen Satz, der mich tief berührt, auch jetzt beim Schreiben: „Lernen lebt von Neugier, Beziehung und Bedeutung“. Neugier ist der Anfang. Sie entsteht, wenn wir nachts in den Sternenhimmel schauen und verstehen wollen, woher wir kommen. Beziehung ist das Fundament. Lehrende, die für ihre Schüler durchs Feuer gehen, prägen ein Leben lang. Und Bedeutung ist das, was alles zusammenhält. Die Frage nach dem Wozu. Ohne sie bleibt Lernen leer.
Wenn wir diese drei Ebenen ernst nehmen, verändert sich alles. Schülern wird kein Wissen eingepaukt, sie dürfen sich zu Persönlichkeiten entwickeln.
Und genau das brauchen wir in einer Welt mit allgegenwärtiger KI. Technologie fordert keine perfekten Antworten, sondern Menschen, die selbstreguliert sind. Die kritisch denken. Die sicher im Umgang mit Unsicherheit bleiben. Menschen mit innerer Stabilität in einer äußeren Dynamik, die nicht langsamer wird.
Wenn Bildung das leistet, brauchen wir weder Angst vor KI noch vor der Zukunft zu haben.
Wer sich das gerne anhören möchte, gerne hier.