Digitale Geschichten

ChatGPT: Verführerische Arbeitserledigungsmaschine oder Kompass zur Erkenntnis?

Ich erlebe gerade keine Diskussion ohne das Argument: „ChatGPT lässt uns alle verblöden“. Da ist sicher was dran. Wer nicht gerade unter einem Stein lebt, kann sich kaum retten vor den reißerischen Social Media Posts. Angefangen von „ChatGPT Cheat Sheets“, die mein Leben soooo leicht werden lassen oder Ratgeber, die mich mit Generative AI geradewegs zur Millionärin machen.

Hatte ich in den ersten Monaten von 2023 noch ein paar Mal die Sorge, ich hätte etwas Grundlegendes verpasst (berechtigte Sorge bei der Geschwindigkeit, mit der wir uns voran bewegen), bin ich mittlerweile nur noch genervt.

Die große Frage: Was macht uns als Menschen eigentlich aus?

Mich nervt das so, weil es an der Oberfläche steckenbleibt. Schöner. Reicher. Erfolgreicher. Ich habe so meine Zweifel, ob die meisten von uns über Generative AI diese Ziele erreichen können. Unter der Oberfläche des schönen Scheins macht uns noch mehr aus. So richtig in Worte fassen kann ich es erst durch die vielen Workshops und Termine in diesem Jahr, durch die ich Einblick in neue Arbeitswelten bekommen habe.

Vor allen Dingen die Welt der Bildung. In diesem Jahr bin ich öfters einmal im Dunstkreis von Kultusministerien unterwegs und rede mit Menschen, die sich sehr ernsthaft damit auseinandersetzen, wie Bildung in Zeiten von Generative AI neu gedacht werden muss. Im Gespräch mit diesen Expert:innen habe ich viel gelernt und habe riesigen Respekt vor der Offenheit und gleichzeitigen Bedachtsamkeit vieler Lehrer und Lehrerinnen im Land. Ich habe zum Beispiel die Grundzüge des Menschenbildes von Wilhelm von Humboldt kennenlernen dürfen. Er ist derjenige, der das Leitbild der Bildung in Deutschland entscheidend geprägt hat.

Das Humboldtsche Menschenbild: Wie gemacht für unsere Zeit

Wilhelm von Humboldt gilt als DER Vordenker des deutschen Bildungssystems. Er lebte zwar vor etwa 200 Jahren, sein Menschenbild passt allerdings perfekt zum Zeitalter von Generative AI. Die Kernaussagen sind:

Jeder Mensch ist einzigartig uns sollte die Freiheit haben, sich entsprechend seiner Fähigkeiten zu entwickeln

Bildung soll zur Selbstbildung befähigen

Bildung als lebenslanges Streben

Das ist nur ein Teil der Thesen Wilhelm von Humboldts, aber uns soll dieser kleine Auszug heute reichen. Denn ich möchte euch zeigen, dass Generative AI eben nicht unser Gehirn zum Erliegen bringt, sondern genau das Gegenteil bewirken kann und uns bei allen drei Aufgaben auf nie gekannte Weise helfen kann.

Das lebenslange Streben nach Erkenntnis und der Wunsch nach Weiterentwicklung

Das macht uns als Spezies einzigartig. Wir haben das vielleicht ein wenig in den Hintergrund gedrängt bei all dem Fokus aus Effizienz und Produktivität. Erkenntnis ist nämlich genau das Gegenteil von Effizienz. Wer also bis hierhin gelesen hat, um zu erfahren, wie er Dinge schneller erledigen kann, der kann weiterziehen. Wir schauen uns an, wie wir mit Hilfe von Generative AI in die Tiefe gehen können.

Machen wir es konkret.

Die folgenden Beispiele sind abgeleitet aus meinen Impulsen, Workshops und den sehr spannenden Diskussionen mit Pädagogen und Bildungsexperten.

Beispiel 1: Der Universalgelehrte an meiner Seite

Das Wissen der Menschheit im Zugriff zu haben, lässt uns (endlich!!) wieder holistisch denken. Das haben wir uns nämlich abgewöhnt. Den Erdkundelehrer darf ich nix zu Mathematik fragen (es sei denn, es ist sein Zweitfach). Die Sportlehrerin nimmt mir nicht die Angst vor dem 10 m Brett. Da wandern wir dann weiter zum nächsten Experten, der aber auch nur wieder den eingeschränkten Blickwinkel des eigenen Fachwissens hat.

Machen wir es konkret an der Nemesis vieler Schüler:innen: Die Mathematik. Nehmen wir an, wir grübeln über eine Aufgabe der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ich habe absolut keine Lust und frage mich: Wozu das Ganze? Bereichert es mein Leben, wenn ich verstanden habe, was eine Standardabweichung ist?

Diese Frage kann ich einem Bot natürlich stellen.

Eine künstliche Intelligenz für die Grundsatzfragen

Daraus könnte sich folgender Dialog aufspannen:

KI: Hast Du schon Pläne für Deine Zukunft? Weißt Du schon, welchen Beruf Du einmal ergreifen möchtest?

Ich: Ja, ich möchte Psychologie studieren.

KI: In dem Fall ist Wahrscheinlichkeitsrechnung für Dich sehr wichtig, denn Statistik macht einen großen Teil des Psychologiestudiums aus.

Tja, spätestens hier sind wir beim intrinsisch motivierten Lernen. Wenn ich mein „Wozu?“ kenne. Ein Universalgelehrter kann uns besser auf diesem Weg begleiten. Womit wir wieder bei Wilhelm von Humboldt wären: Bildung soll zur Entfaltung der individuellen Fähigkeiten beitragen. Vielleicht erkenne ich ja an dieser Stelle, dass Psychologie nichts für mich ist – weil es meinen individuellen Fähigkeiten nicht entspricht.

Beispiel 2: Perspektivenvielfalt für die Selbstbildung

Kommen wir zum nächsten großen Thema unserer Zeit: Die Polarisierung. Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, in Kategorien zu denken: links, rechts, gut, böse, oben, unten. Die komplexe Welt ist aber nun einmal vielschichtiger. Um zu echten Erkenntnissen zu gelangen, müssen wir verschiedene Sichtweisen einnehmen.

Beispiel: Nehmen wir ein Reizthema – vegane Ernährung

Ich kann das Für und Wider eines Themas für mich erst einmal durchdenken, indem ich mit einer Maschine in einen Dialog gehe. Bei einer Maschine muss ich nicht „gewinnen“, ich muss sie nicht überzeugen, ich muss sie nicht beeindrucken. Was bei der Betrachtung verschiedener Sichtweisen eine große Hilfe ist.

Eines muss allerdings gewährleistet sein: die Informationen sollten sachlich und ausgewogen sein.

Die Ausgewogenheit der Information – eine Illusion?

Da sind wir dann beim wichtigen Thema Technologietransparenz. Etwas, bei dem OpenAI die Anforderungen nicht erfüllt. Mit welchen Daten wurde das LLM trainiert, welche Regeln gelten? Was darf die KI beantworten, was nicht?

Schon jetzt kursieren in Social Media Diskussionen über „Woke ChatGPT“.

Diesen Aufgaben müssen wir uns als Gesellschaft stellen. Es gibt ja nicht auf alles eine eindeutige Antwort.

  • wie groß ist die Gefahr einer weiteren Pandemie?
  • Welche Religion ist die friedlichste, beste, welche macht Menschen am glücklichsten?
  • Wer war der beste deutsche Bundeskanzler:in?

Vielfalt ist eine Kernkompetenz in unserer Zeit

Ihr erkennt, auf was ich hinauswill. Genau deshalb ist das Einnehmen verschiedener Sichtweisen eine Kernkompetenz im Zeitalter von Generative AI. Von einer transparenten Technologie müssen wir erwarten, dass sie auf solche Fragen eine differenzierte und ausgewogene Antwort gibt und reflektierende Rückfragen stellt. (z.B. „Was ist Glück?“ auf meine Frage, welche Religion mich am glücklichsten macht)

Bevor wir uns verzetteln, kehren wir zu Wilhelm von Humboldt zurück.

Beispiel 3: Selbstreflektion

Ein schwieriges Thema, denn wir müssen uns mit unseren Schattenseiten beschäftigen. Hier spielt vielleicht sogar Scham eine Rolle. Wir sind hier noch zu früh in der Zeit, aber ich kann mir gut vorstellen, dass wir einer Maschine gegenüber, die ja nicht bewertet, offener sein können.

Auch hier wieder gilt: Umso wichtiger, dass wir der Technologie vertrauen können! Für dieses Beispiel wollen wir annehmen, dass dies der Fall ist.

Nehmen wir an, ich möchte mich auf eine Stelle bewerben und lasse eine KI meine Bewerbung bewerten. Passen meine Skills zu den Anforderungen? Ist die Sprache passend? Ist das Format gelungen, die Optik ansprechend? Was würde der Bot verändern? Spiegeln diese Veränderungen dann noch meine Person wider oder gebe ich damit etwas vor, das ich nicht bin?

Wenn ich einer KI die Stellenanzeige gebe und sie über das Unternehmen im Internet recherchieren kann, ist sie in der Lage, mit mir ein realistisches Interview zu führen. Ich habe es ausprobiert, das sind ziemlich treffende und teilweise kniffelige Fragen, die mich vielschichtig über das Unternehmen und die Aufgabenstellung nachdenken lassen.

Ihr ahnt schon, ich habe mit einem Bot eine Art Sparringspartner, der mir vielleicht auch unangenehme Fragen stellt. Bin ich wirklich so kommunikativ, wie ich vorgebe? Vielleicht lässt mich das darüber nachdenken, ob ich meine Introvertiertheit nicht offen zur Sprache bringen soll oder die Position vielleicht doch nicht die richtige für mich ist.

Vielleicht habe ich Angst vor der Situation „Vorstellungsgespräch“. Auch hier wieder haben wir einen virtuellen Partner, der uns Methoden nennen kann, mit der Angst umzugehen. Kann er sie uns nehmen? Nein, natürlich nicht. Aber die KI kann uns Wege aufzeigen, damit umzugehen. Vielleicht mit einem echten Menschen (!) die stressige Situation üben. Als Desensibilisierung sozusagen. Die Mischung aus Mensch und Maschine macht’s.

Diese drei kurzen Beispiele sollen Euch eine Ahnung davon geben, wie wir unsere Grenzen erweitern können.

Der Mensch ist ein Entwicklungswesen

Denn auch das macht uns aus: Die Fähigkeit, uns im ganzen Leben immer weiterzuentwickeln – wie schon Wilhelm von Humboldt wusste. Nun haben wir ein neues Werkzeug dazu an der Hand.

Und vielleicht, ganz vielleicht, etabliert sich das Humboldtsche Menschenbild ja doch in unserer Gesellschaft. Denn anders als in der industrialisierten Welt, aus der wir alle kommen, stellt das Digitale den Menschen in den Mittelpunkt. Wir müssen nicht mehr nur das Rädchen im Getriebe einer Organisation sein, sondern dürfen noch ein bisschen mehr sein. Haben Zeit für Entwicklung.

Digitalisierung verändert. Alles.