Digitale Geschichten

Über Lebenszeit, Dopamin-Kicks und wie wir “Likes”​ durch Freunde ersetzen

Schauen Sie bitte einmal in Ihren Terminkalender für diese Woche. Wie viele Termine stehen darin, bei denen nicht klar ist, ob und welchen Beitrag Sie leisten können? Noch dazu ohne konkrete Agenda nur mit einer vagen Überschrift? Da geht sie hin, die Lebenszeit. Für immer. Unwiederbringlich.

Dopamin-Kicks und Lebensdiebe

Wir leben in einer Welt, in der alles und jedes um unsere Aufmerksamkeit buhlt. Bis 2004 haben wir uns nur über die Flut an neuen Mails in unserer Inbox beschwert. Dann kam Facebook, dann Twitter, dann WhatsApp, dann Instagram, dann LinkedIn. Wer jetzt noch nicht süchtig geworden ist nach dem Dopamin Kick von Likes und dem “Ping” unseres Smartphones, weil uns jemand irgendwo eine Nachricht geschrieben hat, muss ein Heiliger sein. Dabei waren dies nur die Auswirkungen digitaler Vernetzung mit Menschen. Seit einiger Zeit kommen ja noch die Dinge hinz: der Fitness Tracker, der uns ermahnt, mal wieder ein paar tausend Schritte zu gehen. Sonst meldet sich die Smartwatch, weil die Herzfrequenzdaten immer schlechter werden. Ich garantiere: in einem Internet der Dinge ist das erst der Anfang. 

Zu den vielen kleinen Unterbrechungen kommen noch die großen Zeitfresser, die uns die Nachruhe rauben. Der CEO von Netflix Reed Hasting sieht den größten Wettbewerb nicht in bei Amazon Prime sondern es ist der Schlaf. Damit sollte uns allen klar sein, wenn wir nicht aufpassen, geben wir unser Leben auf. 

Wir alle müssen aufpassen, unser eigenes Leben nicht zu verpassen

Wie zur Hölle sollen wir uns da noch konzentrieren? Unser Tag ist vollgepackt mit Aktivitäten. Das führt dazu, dass wir in Webkonferenzen gleichzeitig Mails schreiben, WhatsApp Nachrichten beantworten und vielleicht noch durch einen Newsfeed scrollen. Wir wollen ja nichts verpassen. Dabei verpassen wir genau damit das Allerwichtigste: Wir denken nicht mehr wirklich nach, wir bauen keine echten Verbindungen zu anderen Menschen mehr auf – was dazu führt, dass wir nichts Substantielles mehr leisten.

Wann waren Sie das letzte Mal mit sich alleine? In der Stille? Nur Sie und Ihre Gedanken?

Wir brauchen Stille für die tiefe Erkenntnis – und doch verpassen wir uns lieber Stromschläge als Stille auszuhalten.

Versuchen Sie es einmal! Alle digitalen Störer abschalten, alleine im Raum aufhalten – nur 15 Minuten. Eine wirklich schwere Aufgabe, denn unser Gehirn hat sich durch die ständigen Reize schon verändert. Schon 2014 hat eine Studie gezeigt, dass etwa ein Drittel aller Probanden sich lieber einen schmerzhaften Stromstoß verpassen als das Nichtstun auszuhalten. 

Dabei brauchen wir unterbrechungsfreie Stille, um Dingen auf den Grund gehen zu können, wirklich zu durchdenken – und nicht einfach nur google fragen und sich mit dem halbwegs passenden ersten Ergebnis zufriedengeben. So werden keine Erkenntnisse gewonnen. Erst recht nicht in einer digitalen komplexen Welt. Und aus Unternehmenssicht gesprochen: diese Erkenntnisse, Ideen und Einsichten sind das Fundament für die künftige Unternehmensentwicklung. Damit daraus etwas großartiges Neues entsteht, brauchen wir den Austausch mit anderen Menschen. Für den Kopf: andere Sichtweisen, gegenteilige Wahrnehmungen – und für die Seele: Begeisterung teilen

Die digitale Welt raubt uns der wichtigsten Fähigkeiten, die wir brauchen, um in ihr zu überleben

Auf den ersten Blick sollte man meinen, dass die digitale Vernetzung uns dafür den roten Teppich ausgelegt hat. Noch nie war es so einfach, sich mit Menschen zu Themen aller Art zu vernetzen. Ein echter Evolutionssprung in der Geschichte der Menschheit: unser kollektives Wissen ist sichtbar und mit Individuen verbunden, mit denen wir mit wenigen Klicks in Verbindung treten können. Dies begeistert mich persönlich bis heute jeden Tag. Die Schattenseite: Medizin wird toxisch, wenn wir sie nicht im richtigen Maß verwenden. Aus Angst etwas zu verpassen, sind wir auf zu vielen Kanälen unterwegs auf der Suche nach Aufmerksamkeit. (siehe oben) Das tut uns nicht gut: In den letzten 15 Jahren hat sich die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund depressiver Erkrankungen VERDREIFACHT

Stelle ich hier einen falschen Zusammenhang her? Nennen wir es These, hier kommt die Herleitung:

Wir suchen Likes, dabei brauchen wir Verbundenheit

Die steten Unterbrechungen, die vielen Termine: unser Tag ist vollgepackt. Das Gefährliche daran ist, dass ein voller Terminkalender und viele social Media Kontakte auch noch gut ankommen. Wir sind wichtig, beliebt und unsere Meinung ist gefragt. Dabei bleiben wir auf der Strecke. Wenn wir abends ausgelaugt den Laptop zur Seite legen, schalten wir Netflix an und glotzen uns in den Schlaf. Da muss es uns nicht wundern, dass Einsamkeit die Seuche unserer Zeit ist

Was uns fehlt, ist Verbundenheit. Tiefe Beziehungen zu anderen Menschen. Freunde, bei denen wir wir selbst sein dürfen. Die unsere schlechten Seiten akzeptieren. Bei denen wir wissen weiß, sie sind für uns da, wenn es uns schlecht geht – und wir für sie.. Diese Verbundenheit entsteht leider nicht in einem Klima der Zeitknappheit, der vollen Terminkalender. Wir schmücken uns ja immer gerne damit, empathisch zu sein und von vielen gemocht zu werden. Zeit in den Spiegel zu schauen: Wie oft haben Sie schon unangenehme Gespräche aus Zeitdruck abgeblockt? Sehen Sie! Ertappt. (Auch ich bekenne mich schuldig.

Freunde schützen uns besser vor Angststörungen als der sicherste Job und das große Gehalt

Fehlt uns diese tiefe Verbundenheit zu anderen Menschen, macht uns das weniger widerstandsfähig gegenüber Krisen. Wir sind weniger resilient und unsere Ängste steigen. Da hilft keine finanzielle Absicherung, kein sicherer Job – nichts ersetzt echte Verbundenheit zu anderen Menschen. 

Ein (Arbeits)Klima des Vertrauens ist das beste Fundament für die digitale Transformation

Dasselbe Prinzip gilt natürlich auch in der Arbeitswelt: Vertrauen baue ich nicht durch sinnarme Besprechungen auf, sondern durch echten Austausch. Bei dem wir uns als Menschen begegnen dürfen. Dieses Gefühl der Sicherheit schafft ein Klima, in dem Innovationen entstehen können und das uns in Krisen stärkt. Der kollegiale Zusammenhalt. Wie kann das aussehen? Hier ein paar Denkanstöße: (die übrigens universell gelten, also sowohl im Privaten wie im Berufsleben)

  • Ein Kollege bittet um Rat. Wenn er im selben Gebäude ist, einfach mal persönlich vorbeigehen, einen Kaffee mitbringen und sich Zeit für einen echten Dialog nehmen. Im besten Fall haben beide einen Erkenntnisgewinn
  • Gehen Sie mit Lebenszeit sorgsam um. Mit Ihrer und der Ihrer Kollegen. Bevor Sie einen Termin einstellen, überlegen Sie genau, was das konkrete Anliegen ist und was sie von den Teilnehmern erwarten. 
  • Haben Sie den Mut, Termine abzusagen, bei denen Sie keinen Beitrag leisten können
  • Reservieren Sie Zeit zum Nachdenken ohne Ablenkung. (Das wird hart am Anfang  ) Als Einstieg könnten Sie ein Buch zu einem Thema lesen, das Sie schon immer interessiert hat. Und dann darüber nachdenken. 
  • Teilen Sie Ihre Gedanken mit anderen. Überdenken Sie wertungsfrei andere Sichtweisen.
  • Wenn Sie konzentriert arbeiten müssen, schalten Sie alle anderen Ablenkungen stumm. Konsequent.
  • Leben Sie die Werte und Eigenschaften, die Sie bei anderen erwarten. Mit anderen Worten: seien Sie authentisch.

Diese Regeln befolge ich konsequent seit einigen Jahren. Mit Demut erfreue ich mich an den persönlichen Begegnungen und Erkenntnissen, die mich persönlich weiterbringen. Ist das jetzt kitschig formuliert? Egal, es ist die Wahrheit. 

Quellen:

SU Global Summit 2019 | Hacking Happiness | Penny Locaso: https://youtu.be/jTOyK1w_OO4

Brene Brown auf Netflix: Call to Courage https://youtu.be/gr-WvA7uFDQ