Jeder von uns wird in diesem Jahr Möglichkeiten haben, von denen vorangehende Generationen nur träumen konnten. Starre Strukturen brechen immer weiter auf. Es begann in den 90ern: Das Internet hat uns Menschen hypervernetzt, Informationen sind jederzeit verfügbar. Mit Generativer KI ist dieses Wissen jetzt nicht mehr nur verfügbar, wir können es uns vermitteln lassen, so wie es individuell zu uns passt. Bedeutet, überall auf dem Planeten eröffnen sich für Menschen neue Wege, die es vorher so nicht gab.
Hört sich theoretisch an, machen wir es konkret.
Die Geschichte von Sultana
Ihre Geschichte wurde schon 2021 veröffentlicht im „The Economist“. Es ist die Geschichte eines afghanischen Mädchens, das sich – in eine Burka gezwungen – wie in einem Gefängnis fühlte. Ihr Vater verkleidete sie manchmal als Junge und streifte mit ihr durch die Straßen. Der verführerische Geschmack der Freiheit ließ sie die Grenzen noch deutlicher spüren. Ihre Mutter ermutigte sie, Englisch zu lernen: „Du schaffst es hier heraus.“
Sultana entdeckte die Khan Academy, eine der größten freien Lernplattformen der Welt. Als sie damit Englisch gelernt hatte, tauchte sie in die Welt der Philosophie ein, dann in die Welt der Mathematik. Irgendwann träumte Sultana davon, theoretische Physik in den USA zu studieren. Sie schmuggelte sich über die Grenze nach Pakistan, um dort online die Aufnahmeprüfung für die Arizona State University zu machen …. und zu bestehen.
Heute ist Sultana Mitglied der Forschungsfakultät der Tufts University und beschäftigt sich mit Quantencomputern.
Die Wirkmacht von Wissen, das allen zugänglich gemacht wird. Ohne Internet, ohne Hypervernetzung unmöglich. In 2023 wurde Stufe zwei gezündet – Generative KI war für alle zugänglich.
Lernen mit persönlichem Tutor für jeden
Durch Generative KI haben sich die Möglichkeiten noch einmal erweitert. In seinem inspirierenden TedTalk hat der Gründer der Khan Academy, Sal Khan, gezeigt, was ein persönlicher Tutor bewirken kann. Der virtuelle persönliche Nachhilfelehrer erweitert die Grenzen dessen, was uns als Lernenden bisher alleine möglich war. Unabhängig vom Einkommen der Eltern, dem akademischen Abschluß können wir uns Welten erschließen, die bislang nicht allen zugänglich waren. Das ist faszinierend und hat für diejenigen, die ihr Leben gestalten wollen, eine große Strahlkraft.
Der Rest der Welt holt auf
Vielleicht berührt mich das wegen meiner eigenen Biographie so sehr. Ich komme selbst aus einer Familie, in der ich auch im erweiterten Kreis von Cousins und Cousinen bis heute die Einzige bin, die studiert hat. Manchmal habe ich an den skeptischen Blicken meines Umfeldes gemerkt, dass ich Grenzen überschritten hatte. Weil ich Mathematik gut konnte, weil ich Ingenieurin werden wollte. Auch mein großes Glück war es, dass meine Eltern mir niemals das Gefühl gegeben haben, ich könne etwas nicht erreichen. Eine Gemeinsamkeit mit Solana, auch wenn ich es nicht zur Quantenphysikerin an der Tufts University geschafft habe.
Was macht eine erfolgreiche digitale Gesellschaft aus?
Wenn Zugang zu Wissen sich so fundamental verändert, dann verändert sich auf der globalen Bühne etwas: Viel mehr Menschen als je in der Geschichte der Menschheit können lernen, sich bilden – wann immer und was auch immer sie wollen. Ohne fixe Lernpläne, wichtiger wird etwas anderes: der innere Antrieb, die eigenen Träume. Wer den Mut hat, sein Leben in die Hand zu nehmen, dem wird die Welt offener werden als jemals zuvor. Egal, wo dieser Mensch lebt.
Eine digitale Gesellschaft ermöglicht genau das: Jedem die Werkzeuge an die Hand zu geben, sich das Leben selbst zu gestalten.
Das bringt wiederum viele dazu, Dinge ganz neu zu denken, neue Ansätze zu suchen. Das ist die eine absolute Grundvoraussetzung, denn die Welt um uns ist nicht mehr die, die sie noch vor wenigen Dekaden war. Um „neu zu denken“ braucht es noch etwas: Auf alles nicht sofort eine Antwort zu haben, sondern zunächst einmal Fragen zu stellen – „in Frage“ zu stellen. Wer das macht, denkt in der Tiefe und sucht nicht nach schnellen Antworten an der Oberfläche.
“Ipads für die digitale Schule” ist leider solch ein Beispiel für eine schnelle Antwort auf die Frage nach zukunftsfähiger Bildung. Diese Antwort zeigt, dass über die Tiefe der Veränderung nicht wirklich nachgedacht wurde. WOZU brauchen wir diese? Was genau soll damit gemacht werden? Welche Fähigkeiten sollen diese Tablets vermitteln? Wenn diese Fragen nicht zuvor gestellt wurden, sind Tablets für Schulen nur blinder Aktionismus
Nicht in Antworten, sondern in Fragen denken
Das wusste schon Douglas Adams im „Hitchhiker’s Guide through the Galaxy“. Was nutzt mir der beste Supercomputer der Welt, der „42“ als Antwort ausgibt, wenn ich die dazugehörige Frage gar nicht kenne.
Vielleicht ist der Jahreswechsel mit den ruhigen Tagen eine gute Gelegenheit, sich die Zeit für Fragen statt für Antworten zu nehmen. Ich fange einmal an und werfe ein paar Fragen in den Ring.
- Wenn wir die Berufe von morgen noch gar nicht kennen, was sind dann die Inhalte, die wir an Schulen vermitteln?
- Was sind Fähigkeiten, die uns in einer Welt immer geringerer Planbarkeit Sicherheit geben?
- Was macht uns als Mensch aus, wenn uns Maschinen sowohl körperlich (Roboter) als auch intellektuell immer ähnlicher und bald auch überlegen sein werden?
Komplexität ist nicht binär, ist nicht schwarz/weiß
Spoiler: Ich werde die Antworten auf diese Fragen nicht geben. Ich habe zwar eine Ahnung davon, wie ein Teil der Antworten aussehen könnte. Aber eben nur für einen Teil. Für das ganze Bild braucht es mehr als nur mein Gehirn, meine Sichtweise auf die Welt. Denn unsere Welt ist komplex, vielschichtig, ambivalent. Deshalb braucht es viele Menschen, viele Perspektiven, um Antworten zu finden. Auch wenn Social Media und die Politik uns verstärkt glauben lassen, es gäbe nur „für“ oder „gegen“, „schwarz“ oder „weiß“.
Nehmen wir ein vermeintlich einfaches Thema, das die Komplexität dieser Welt zeigt:
Mein Übungsklassiker in Workshops, wenn es darum geht, mit Generativer KI die Vielschichtigkeit eines Themas zu erkunden.
Eine Frage, die sofort nach eindeutiger schneller Antwort schreit, ist eher nicht hilfreich. Zum Beispiel:
Ist vegane Ernährung gut oder schlecht?
Sie ist deshalb nicht hilfreich, weil wir sie so gar nicht beantworten können, außer vielleicht genauso eindimensional mit: „Für die Kuh gut, für den Milchbauern schlecht.“ Um das Thema umfassend beurteilen zu können, könnten wir eine KI vielleicht fragen:
Welche Aspekte spielen bei der Beurteilung veganer Ernährung eine Rolle?
Die Antwort: kulturelle, soziale, ökologische, religiöse, ökonomische, gesundheitliche Aspekte – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Übertragen auf die Komplexität dieser Welt heißt das:
Für den einen mag vegane Ernährung keine Option sein, weil für ihn eine ausgewogene Ernährung nur mit Fleisch möglich ist. Für die andere mag Tierwohl an oberster Stelle stehen, für eine dritte Person vielleicht ökologische oder religiöse Aspekte.
Ihr seht, die Antworten auf diese Fragen sind so vielfältig wie wir Menschen selbst. Wichtig dabei ist, die Gründe für die Entscheidung der anderen zu sehen und zu verstehen. Dann fällt es uns leichter, diejenigen mit anderer Meinung zu akzeptieren. Die Grundlage für einen Dialog. Die Grundlage, das ganze Bild zu sehen. Das wird in einer komplexen Welt immer wichtiger.
Die digitale Welt kennt keine einfachen Antworten
Was für vegane Ernährung gilt, gilt gleichermaßen für alle anderen Themen, die uns auf der politischen Weltbühne gerade beschäftigen: Sozialstaat, Migration, Krieg, Klima. Jedes Thema hat viele Perspektiven und Blickwinkel, die es zu ergründen gilt. Um am Ende dann zu einer eigenen Haltung zu kommen, die auf den eigenen Werten basiert. Kritisches Denkvermögen ist DIE Kernkompetenz der komplexen digitalen Welt von heute. Und genau das erhalten wir nicht “einfach so”. Es erfordert eine Auseinandersetzung mit den eigenen Werte und eine innere Unabhängigkeit.
Kritisches Denkvermögen setzt innere Freiheit voraus
Kommen wir wieder zurück zu Sultana aus Afghanistan oder im kleineren Maßstab zu Dorothee aus Duisburg. Wer neue Wege geht, muss alte in Frage stellen. Das trauen wir uns nur dann, wenn uns unser Umfeld Freiräume gibt. Wenn es uns erlaubt ist, zu träumen. Wenn es uns erlaubt ist, eigene Wege zu gehen. Auch wenn diese erst von wenigen anderen gegangen wurden und ein Scheitern wahrscheinlicher ist als ein Erfolg. Übertragen auf eine Gesellschaft muss das bedeuten:
Weniger starre Regeln, mehr universelle Prinzipien
Gerade in Deutschland sind wir die Meister der Regelungen, Verordnungen und Standards. Das passte zu einer Welt, die kompliziert war, aber sich wenig veränderte. So wurde Risiko minimiert. Was es in der Welt der stärksten Veränderung in der Geschichte der Menschheit aber braucht, ist etwas anderes: Kreativität. Denn Kreativität befähigt uns, Veränderung anzunehmen und etwas Neues daraus zu schaffen. Das haben wir im gerade abgelaufenen Jahr gesehen: Welche neuen Möglichkeiten haben Künstler und Kreative mit Generative AI geschaffen! Sprachlehrer:innen haben ganz neue Methoden entwickelt, mit Generativer KI Fremdsprachen zu lehren. Die Medizin, die ich hier verschreibe, habe ich übrigens selbst eingenommen. Im abgelaufenen Jahr hat mir Generative KI Chancen eröffnet, von denen ich ein Jahr zuvor nie hätte zu träumen gewagt.
Es hilft alles nichts: Wir müssen das Neue erst verstehen, erleben, ehe wir Regeln dafür aufstellen. Uns wird gerade bewusst, dass wir gar nicht so schnell neue Regeln aufstellen können, wie sich die Welt verändert. Vielleicht eine gute Gelegenheit, einmal zu schauen, welche davon vielleicht auf den Müll gehören, weil sie heute schon von gestern sind.
Stattdessen vielleicht einmal mehr in Prinzipien denken. Auch hier wieder gilt: nicht sofort in Antworten denken, sondern in Fragen. Fragen, die vielleicht neue Denkräume eröffnen?
Ich beginne wieder mit ein paar Vorschlägen, die sich nach Prinzipien ausrichten:
- Was ist das Ziel von Bildung? Wieviel Wissen muss sie vermitteln, wieviel Fähigkeiten? Welche Fähigkeiten?
- Wozu braucht es immer noch die Lerngemeinschaft im Klassenverbund? Was lernen wir dort, was uns der virtuelle Coach nicht lehren kann? Gilt für die Schule wie für Arbeit und Bildung generell.
- Wenn sich Geschäftsmodelle rasant verändern, dann verändert sich Arbeit an sich. Wie finden Organisationen Menschen, die nicht nur aktuellen Stellenanforderungen genügen, sondern langfristig Transformation gestalten? Müssen wir Lebensläufe anders lesen? Weniger nach aktuellen Skills, sondern auf Fähigkeiten? Auf Veränderungskompetenz? Und wie erkenne ich die in einem Lebenslauf? Vielleicht ist es ja positiv, wenn wir eine Bewerbung lesen mit einer sehr ungewöhnlichen Biographie.
- Was sind die wichtigsten Kompetenzen in Zeiten von Veränderung? Wie lernen wir diese?
Um die passenden Fragen zu finden, die Antworten darauf zu suchen, braucht es Menschen, deren Lebensprinzip nicht die Erfüllung von Standards ist, sondern die in neuen Mustern, in neuen Wegen denken. Dazu braucht es innere Unabhängigkeit, die kritisches Denkvermögen erlaubt. Damit wir uns trauen, neue Fragen zu stellen. Und für die Beantwortung dieser Fragen unterschiedliche Menschen zu befragen. Neben den Kreativen braucht es die Zuhörer, die Brückenbauer für Transformation.
Wer Veränderung per se als Bedrohung sieht, für den ist der Status Quo der beste denkbare Zustand.
Wie schade. So viele verpasste Chancen. Denn wenn Gewohntes aufbricht, können wir etwas besser machen.
De Zukunft bauen wir heute. Lasst es uns tun.
Auf ein aufregendes Jahr 2024. Die wilde Fahrt der Veränderung wird weitergehen.