Deutschland ist das Land der Ingenieure und des Maschinenbaus. Diese Unternehmen und besonders die Automobilbranche waren im Nachkriegsdeutschland eine der Garanten für unseren Wohlstand. Eine der Stärken: Kompromisslose Ausrichtung auf Effizienz. Heisst konkret im Sinne der Organisationsentwicklung: Strikte Trennung von Aufgaben, die in Abteilungen erledigt wurden. In den Abteilungen waren Spezialisten die Stars. Die Menschen, die sich tiefe Expertise in einem bestimmten (Nischen)thema erarbeitet hatten. In solch einer Organisation bedeutet Innovation inkrementelle Weiterentwicklung des Produkte. Das legendäre Spaltmaß steht sinnbildlich für exzellente Qualität durch stete Verbesserung der Produktionsprozesse. Doch plötzlich zeigen sich die Schwächen dessen, was Deutschland zum Exportweltmeister gemacht hat. Denn die Welt verändert sich nicht mehr schrittweise, sondern wie eine Lawine.
Die disruptive digitale Welt wird nicht aus der Spezialistenbrille erobert
Alle reden vom exponentiellen Wandel. Zu Recht. Wir leben in Zeiten der größten Veränderung in der Menschheitsgeschichte. Das bedeutet allerdings, dass inkrementelle Verbesserung eines Produktes nicht mehr ausreicht, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wir müssen Produkte ganz neu erfinden, wir müssen Organisation neu denken. Am Beispiel des Autos sehen wir es: Mehr als 100 Jahre hat sich das Geschäftsmodell nicht verändert. Plötzlich treten wir in eine Welt ein, in der Vieles gleichzeitig passiert: Alleine die Umstellung von Verbrennungs- auf Elektromotoren ist schon komplex genug, gleichzeitig ist nicht mehr die Hardware (das Auto), sondern die Software das Kriterium, dass ein Auto fit für die Zukunft macht. In wenigen Jahren wird „Mobility as a Service“ selbstverständlich sein: Autos nicht mehr als Besitz, sondern nach Bedarf per Fingertipp vor die Haustüre.
Die Automobilbranche soll hier nur als Platzhalter stehen. Gleiche disruptive Prognosen kann ich genauso für die Energiewirtschaft oder das Bankenwesen oder oder oder erzählen. Es geht um das Prinzip: Organisationen können in Zeiten fundamentaler Veränderung nicht bestehen mit den bisherigen Herangehensweisen:
- Extrapolation der Erfahrungen der Vergangenheit in die Zukunft. Wir haben gerade gesehen, dass sich dafür auf vielen Ebenen gleichzeitig zu viel verändert.
- Spezialisten blicken naturgemäß nicht über den Tellerrand. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie tief tauchen können.
Was wir brauchen, sind Menschen, die unsere Zeit aus der Vogelperspektive betrachten können und über Silos hinaus denken
Das Digitale durchdringt alles, Software wird wichtiger als Hardware. Und da nähern wir uns schon einer weiteren Herausforderung, wenn Organisationen „abteilen“ und „spezialisieren“: Unterschiedliche Herangehensweisen werden nicht erkannt. Ich bin selbst Ingenieurin für Wasserwirtschaft, auch eine Welt der Hardware. Ich weiß also, wovon ich spreche. Denn es ist im Grunde egal, ob wir einen Staudamm bauen oder ein Auto. Fehler kosten richtig viel Geld und können schlimmstenfalls Menschenleben gefährden. Deshalb wurde mit größter Vorsicht und vielen Kontrollmechanismen gearbeitet. Das Wasserfallprinzip ist in dieser Welt bis heute verbreitet: Es werden im Vorfeld möglichst alle Eventualitäten, Fehlerquellen, Sollbruchstellen vorweg gedacht. Risikominimierung hat Priorität.
Die Softwarewelt ist eine völlig andere. Auch dies habe ich staunend erlebt, als ich als Quereinsteigerin in die Softwareentwicklung eingestiegen bin. Grundsätzlich ist die Haltung vereinfacht ausgedrückt: „Wir schauen mal, ob es funktioniert. Wenn nicht, setzen wir alles auf den vorherigen Zustand zurück.“ Agile Arbeitsweisen entwickelten sich. Mircoservices wurden in kleinen Teams selbständig entwickelt. Eigenverantwortung statt Kontrolle, Vernetzung statt Silos, Servant Leadership statt Arbeit auf Anweisung sind Erfolgsfaktoren dieser Welt. Hier gewinnen die Schnellsten, nicht die Detailverliebtesten. Lernen beim Tun, nicht Vorwegnahme von eventuell auftretenden Risiken. Größer kann der Cultural Clash nicht sein.
Spezialisten mit Tunnelblick schauen wahrscheinlich aneinander vorbei
Beide Welten sind sehr unterschiedlich und denken in völlig anderen Mustern. Es liegt auf der Hand, dass mit immer größerer Expertise das Leben im Fachsilo immer mehr zunimmt. Ich meine das völlig wertfrei, es ist nur eine Feststellung. Treffen zwei Experten beider Welten aufeinander, kommt es zwangsläufig zu Missverständnissen. „Risiken evaluieren“, „Planungszyklen abstecken“ und „Führung“ werden völlig unterschiedlich interpretiert. Ich habe es oft genug erlebt. In Meetings wird friedlich stundenlang aneinander vorbeigeredet. Weil jeder mit den gleichen Worten etwas völlig anderes im Sinn hat. Wenn sich keiner dessen bewusst wird, kommt es früher oder später zum Knall. Zwei Tunnelblicke begegnen sich halt äußerst selten. Es braucht die Brückenbauer:innen.
Generalisten erkennen die Unterschiede und verbinden
In einer transformativen Organisation braucht es unbedingt Menschen, die die Prinzipien beider Welten verstehen und deshalb Kommunikationsbarrieren überwinden können. Sind sie im Team, werden Missverständnisse früh erkannt und im besten Fall das gegenseitige Verständnis erhöht. Die Spezialisten müssen in Zeiten radikaler Veränderung nicht nur in die Tiefe gehen, sondern ab und zu mal von oben das Gesamtbild betrachten.
Komplexität braucht Menschen, die zuerst in Prinzipien denken statt in engen Regeln
Nehmen wir wieder das Automobil als Beispiel: Es herzustellen ist kompliziert. Als wir es einmal geschafft hatten, die komplizierten Strukturen in Einzelaufgaben herunterzubrechen, hatten wir eine Maschinerie geschaffen, in der jeder Einzelne seine Siloaufgabe erledigen kann (egal ob Finanzdirektor oder Mitarbeitende am Band) und am Ende kommt ein fertiges Produkt heraus. Das System bricht dann zusammen, wenn sich zu viel gleichzeitig und in rasender Geschwindigkeit verändert.
Reflexhaft versuchen wir, neue starre Regeln zu finden, die die Silos neu verbinden. In der mechanistischen Welt der Industrialisierung war die Welt dann wieder in Ordnung. Das ist viel zu langsam und wird dem mehrschichtigen Wandel nicht gerecht.
Denken wir in Prinzipien: Stete Veränderung erzwingt schnelle Anpassung. Die kann die Spitze der Hierarchie gar nicht alleine steuern. Es braucht die Expertise und die Eigenverantwortung aller. Wer nur Regeln befolgt, dem wird Eigenverantwortung aberzogen. Kontext prägt Verhalten. Agiles Arbeiten, das stete Veränderungen adaptiert, erfordert genau das: Eigenverantwortliches Handeln. Jede noch so kleine Aufgabe hat eine Person, die dafür den Hut aufhat. Um sie zu erledigen, hat sie die Handlungsfreiheiten.
Generalisten beantworten das „wozu“
Machmal frage ich, WOZU wollt ihr agil werden? Was ist das Ziel, das ihr damit erreichen wollt? Die häufigsten Antwort: „Wir wollen attraktiv sein für den Arbeitsmarkt. Fachkräfte sind Mangelware.“ Aus meiner Sicht ist das bestenfalls ein Teil der Antwort. Das eigentliche Ziel einer Organisation muss sein, sich ihrer Zeit anzupassen. Auf schnelle vielschichtige Veränderung können wir nur mit agilen Arbeitsweisen reagieren, nicht mehr in der klassischen Hierarchie.
Um dies zu erkennen, braucht es die Generalisten. Sie verbinden Punkte miteinander, die die Spezialisten nicht sehen (können). Prinzipien erkenne ich nur, wenn ich das Gesamtsystem betrachte.
Heißt das, wir brauchen keine Spezialisten mehr? Nein. Natürlich wird Spezialwissen immer gefragt sein. Es reicht alleine nur nicht mehr aus. Es braucht gleichzeitig eine Offenheit und ein Bewusstsein dafür, dass es andere Sichtweisen und Herangehensweisen gibt und dass sich die Welt in steter Veränderung befindet. Raus aus dem Tunnelblick. Verbindung mit andern. Bewusstsein für andere Sichtweisen, Antriebe und Zwänge. Die sind nämlich für Softwareentwickler andere als für Vertriebler als für Finanzexperten als für Führungskräfte. Die Liste ließe sich undendlich fortsetzen. Hier zeigt sich auch, warum Kommunikationfähigkeit eine der Kernkompetenzen der digitalen Welt ist.
Ein Generalist ist keine Jobbeschreibung
Heißt konkret, dass Organisationen keine neuen Stellen schaffen müssen, die „Generalisten“ heißen. Es bedeutet, dass die Organisation insgesamt offener werden und Verbindungen schaffen muss. Um beim Automobil zu bleiben: Es ist wohl kein Zufall, dass die Software-Entwickler bei Tesla ihren Arbeitsplatz nah am Band haben. Da, wo die Autos produziert werden. Ein Beispiel dafür, wie und warum Silos aufgehoben werden.
Davon brauchen wir mehr. Die Büroräume der Zukunft sind nicht mehr in Abteilungen aufgeteilt. Sie ermöglichen die Vernetzung und Kommunikation aller. Vernetzung schafft noch etwas anderes: Die Menschen fühlen sich der Organisation zugehörig und nicht zuerst einer Abteilung. Das führt gerne mal zu „wir“ gegen „die“. Agile Projekte setzen sich aus Experten des gesamten Unternehmens zusammen.
Steile These: In diesem Arbeitsklima entstehen vielleicht automatisch mehr Generalisten.
Digitalisierung verändert. Alles.