Digitale Geschichten

Der Bitcoin im Weltgeschehen: Der schwierige Umgang mit der Offenheit

Dieser Text war schon fertig geschrieben, dann kam der 24.Februar und ich beschloss, abzuwarten. Die Ereignisse haben die ursprüngliche Kernaussage noch einmal verdeutlicht: Wir haben Schwierigkeiten damit, etwas zu anzunehmen, dass sich allen Regelungen von außen entzieht. Darum gibt es gerade sehr viel Weltanschauung rund um das Thema Bitcoin. Hier der Versuch einer sachlichen Annäherung.

Regeln ohne Herrscher lässt uns fragen: “Kommen wir überhaupt ohne Autorität klar?”

Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit können wir Regeln durchsetzen, ohne eine zentrale Autorität dafür einsetzen zu müssen. Das ist so fundamental anders als alles, was wir jeden Tag erleben, dass wir wohl erst einmal lernen müssen, damit umzugehen. 

Warum uns das so stresst, lässt sich wohl am besten am politischen Weltgeschehen der letzten Monate und vor allem der letzten Tage ablesen. Und ja, mich stresst das auch. Es bedeutet nämlich, dass wir anders mit Konflikten umgehen müssen – auf der großen weltpolitischen Bühne genauso wie im Kleinen. 

Bedeutet Bitcoin wirklich Freiheit?

Bitcoin wird gerne mit dem Begriff der Freiheit gleichgesetzt. Ich würde dem nur bedingt zustimmen. Wenn Freiheit mit der Abwesenheit von Regeln gleichgesetzt wird, ist es faktisch falsch. Bitcoin hat beinharte Regeln, die nur sehr schwer geändert werden können – nur im Konsens, niemals von einer einzigen Person. Alle die mitmachen, akzeptieren diese Regeln. 

Der Grund, warum Bitcoin mit Freiheit gleichgesetzt wird, ist ein anderer: die maximale Teilhabe, also Offenheit für jeden. Wirklich alle können mitmachen auf verschiedenen Ebenen. Zum einen natürlich als  Entwickler aber auch für diejenigen, die den geschriebenen Code überprüfen wollen. Er ist quelloffen und auf Github für jeden verfügbar. Außerdem kann jeder an der Verifizierung von Transaktionen teilhaben, in dem er einen Knoten betreibt. Die Software dafür steht im Internet zum Download bereit. Damit können wir aktiver Teil des Netzwerkes werden. Jeder der mag, kann also die Rolle des Administrators annehmen. Natürlich kann auch jeder Blöcke erstellen und das Kontoführungsbuch fortschreiben – die Aufgabe der Miner. Hier gibt es mehr und mehr Menschen auch in Deutschland, die mit der Abwärme des Minings ihr Haus heizen und am Ende des Jahres beim aktuellen Kurs von rund 35.000 € sogar noch einen kleinen Gewinn damit machen. Ein Ansatz, der vor dem aktuellen Geschehen vielleicht noch mehr in den Fokus rücken könnte. 

Bitcoin ist Teilhabe

Abseits der immer noch nerdigen Technik sind da die Millionen Anwender: Internetverbindung vorausgesetzt, kann jeder eine Wallet erstellen und Transaktionen tätigen. Egal, ob es dem Staat gefällt oder nicht. Tricky wird es zwar an den Schnittstellen zur regulierten Welt des FIAT Geldes, die Hürden sind jedoch überwindbar.

Es ist diese Teilhabe, die uns gerade stresst. Sie fordert nämlich Toleranz. Wenn jeder mitmachen darf, sind auch die dabei, die meine Weltsicht nicht teilen. Schauen wir uns dies einmal näher an.

Teilhabe heißt: Auch die mit anderer Meinung sind dabei

Seit ein paar Monaten werden die Stimmen lauter, die behaupten, Bitcoin sei die Heimat der Rechts-Libertären. Die Beschränkungen zur Eindämmung der Pandemie fast aller Staaten weltweit haben verstärkt zu Protesten geführt. Da ist der Begriff der Freiheit wieder. Organisationen aller Art – ob Familie, Unternehmen oder Gesellschaften – funktionieren nur, weil wir uns Regeln auferlegen, an die sich alle zu halten haben. Wer sich nicht daran hält, muss mit Strafverfolgung rechnen. Die kanadische Regierung hat dies soweit getrieben, dass Konten von Bürgern, die Spenden an die Teilnehmer des Friedenskonvoys überwiesen hatten, eingefroren wurden. Möglich wurde dies durch die Notstandsgesetze, die von Justin Trudeau erhängt wurden. Dieses Beispiel zeigt, was die Kopplung von Geld und Staat bedeutet: Macht. 

Die Ereignisse in Kanada haben bei mir widersprüchliche Gefühle ausgelöst. Ich gehöre keinesfalls zu den Impfskeptiker:innen oder Maßnahmengegner:innen an (eher im Gegenteil). Allerdings frage ich mich schon, ob es nicht ein Machtmissbrauch eines demokratischen Staates ist, die Geldströme seiner Bürger zu kontrollieren und zu sanktionieren.

Wir lernen: Je nachdem, wer diese Macht gerade innehat, stößt dieses Gebaren entweder dem linken oder dem rechten politischen Lager auf. Durch die Pandemie bedingt, waren die Nutznießer eines Geldsystems, das sich staatlicher Kontrolle entzieht, eher dem rechten Lager zuzuordnen. 

Die Ereignisse des 24. Februar 2022

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Der 24. Februar 2022 hat uns die Bedeutung dezentraler offener Systeme deutlich vor Augen geführt. Der aktuelle Konflikt spielt sich ausgerechnet zwischen zwei Ländern ab, die weltweit die meisten Krypto-Besitzer in der Bevölkerung haben.  Bitcoin (und Kryptowährungen generell) stehen allen offen: Russen wie Ukrainern. Flüchtlingen genauso wie Oligarchen. Wir sehen: Bitcoin ist rechts, Bitcoin ist links – oder keines von beiden.

Twitter ist voller Geschichten von geflüchteten Ukrainern, die ohne Kryptowährungen keinerlei Zugriff mehr auf Vermögenswerte hätten. Bitcoin war die Rettung. Sie ist vermutlich auch die letzte Rettung für viele Russen (und ich spreche nicht von Oligarchen), ihre Ersparnisse zu sichern. Das werden die nächsten Tage sicher noch zeigen. Eines zeichnet sich deutlich ab: Bitcoin und einige andere Kryptowährungen sind eine reale Möglichkeit, sich dem Spiel der Weltmächte auf den Finanzmärkten teilweise zu entziehen. Teilweise deshalb, weil sich in den vergangenen Tagen gezeigt hat, dass Bitcoin und Ether nicht im Wert gestiegen sind, sondern sich parallel zu den Börsenkursen entwickelt haben. Immer noch besser als der drastische Fall des Rubels, der sich heute (Montag, 28.02.2022) schon abzeichnet.

Zurück zur Polarität: Natürlich stehen auch Oligarchen Kryptowährungen zur Verfügung. Entsprechend kommen aus der Politik – in diesem Fall vom Vize-Regierungschef der Ukraine (übrigens der, der Elon Musk um die Freischaltung von Starlink gebeten hat) der Wunsch nach Zugangsbeschränkung. Die Politik möchte wieder Regeln einführen, Systeme kontrollieren. Das ist ihre Rolle und aus ihrer Sicht nachvollziehbar.

Dies funktioniert nur (!) an den Grenzen zwischen Krypto- und FIAT Geld. Innerhalb des Systems lassen sich Transaktionen Einzelner nicht verbieten. Die Realität in vielen Staaten, die Bitcoin verboten haben, zeigt dies. Keine Chance. Und genau an dieser Stelle tut es weh. Wir müssen erkennen, was “Offenheit” bedeutet:

Da ist zum einen natürlich den Zugang von Menschen, die aus Armutsgründen kein Bankkonto einer klassischen Bank bekommen können. Eines der Werteversprechen der Befürworter. Schon heute nutzen viele Menschen Bitcoin dazu, ihren Verwandten in der Heimat Geld zu schicken. Die deutliche sichere, günstigere und schnellere Alternative zu Western Union.  Zum anderen vielleicht eine Exit-Möglichkeit für Kriegsverbrecher oder Profiteure von diktatorischen Regimen. 

Wir kennen diese Debatten vom Tor-Browser – dem Zugang zum Darknet. Es wird von den schlimmsten Verbrechern genutzt, es ist die Möglichkeit für Whistleblower, auf sicherem Weg Informationen an Journalisten zu übermitteln.

Das ist systemische Offenheit. Das ist Polarität. Bitcoin ist für Oligarchen. Bitcoin ist für Flüchtlinge. Bitcoin ist für Russen. Bitcoin ist für Ukrainer. Bitcoin ist für Arme. Bitcoin ist für Reiche. Das mag uns gefallen oder nicht. Wir sollten uns darauf einstellen, dass Bitcoin nicht wieder weggeht. Wir werden lernen müssen, mit dieser Spannung umzugehen. Wir werden lernen müssen, was dezentrale Systeme ohne zentrale Steuermöglichkeit bedeuten.

Digitalisierung bedeutet, sich eine Welt vorstellen zu können, die ganz anders ist als alles, was wir kennen.