Digitale Geschichten

Die Macht der Selbstorganisation

Es wird ungemütlich. Was wir lange Zeit mehr gefühlt haben als dass wir es in konkrete Worte hätten fassen können, wurde spätestens 2020 erlebbar. Was immer theoretisch als Gefahr im Raum schwebte, war auf einmal Realität: eine weltweite Pandemie. Es sollte nicht dabei blieben. Krieg in Europa, chaotische Lieferketten. Und da haben wir noch mit keinem Wort über den Klimawandel und die tiefgreifenden Veränderungen der digitalen Transformation gesprochen. Schauen wir uns heute an, was es braucht, um als Unternehmen in solch einer Welt nicht nur zu bestehen, sondern erfolgreich sein zu können.

Tesla und der Chipmangel

Wer die Nachrichten der letzten Monate verfolgt hat, hat mitbekommen, dass die Automotive-Industrie unter dem weltweiten Chipmangel zu leiden hat. Von Audi in Neckarsulm bis zu Ford in den USA, überall das gleiche Spiel: Die Bänder stehen still. Überall? Nein, es gibt ein gallisches Dorf, an dem das Thema scheinbar unberührt vorbeigeht – Tesla. Hier wird weiterhin produziert, als würde das Unternehmen über geheime Reserven verfügen, die dem Rest der Branche verwehrt sind. Natürlich ist dies nicht der Fall, der Einkauf von Tesla hat kein Wunder vollbracht. Die Lösung liegt woanders: Es wurde geschaut, welche Chips auf dem Markt verfügbar sind und Software und Bauteile entsprechend angepasst, vereinfacht ausgedrückt. Hier kommt Tesla zugute, dass sie vor allem Software-Schmiede sind. Und hier nähern wir uns dem echten Unterschied: Tesla arbeitet als Organisation wie eine Software-Schmiede. Konkret heißt das, die Teams arbeiten selbstorganisiert mit weitreichenden Befugnissen. Joe Justice, einer der Experten in Sachen Scrum, hat für einige Monate als Experte bei Tesla gearbeitet und darüber in diversen sehr hörenswerten Talks berichtet. Ein Beispiel als Spoiler: Wenn ein Team in der Produktion feststellt, dass die Toilettengänge zu viel Zeit beanspruchen, kann das Team selbst entscheiden, weitere Toiletten einzubauen. Wer hier schon ungläubig schaut, sollte sich das ganze Gespräch anhören.

Selbstorganisation: Geschwindigkeit und Qualität

Eines wird jedoch sofort klar: „Agilität“ ist kein schickes Buzzword, sondern wird immer mehr zur Notwendigkeit. Der Chipmangel ist ein wunderbares Beispiel. Die zentrale Steuerung über eine Hierarchie bringt hier wenig, sie ist viel zu langsam. Ehe die Expertise der verschiedenen Unternehmensbereiche (Einkauf, Entwicklung, Produktion) eingeholt wurde und die Unternehmensführung irgendwann entschieden hat, hat sich die Welt schon weitergedreht. Ein Team mit voller Entscheidungsbefugnis, das alle Experten an Bord hat, liefert schnellere und vor allen Dingen bessere Ergebnisse. Warum besser? Das ist der Selbstorganisation immanent, denn Selbstorganisation bedeutet volle Verantwortung. Im Englischen wird der Begriff „you own a task“ verwendet, der keine wirkliche deutsche Entsprechung hat und den Nagel auf den Kopf trifft. Wer Verantwortung trägt, „besitzt“ die Aufgabe und geht – wie der Besitzer eines Eigenheimes – sorgsam damit um. Ein fundamentaler Unterschied zur Command/Control Welt, in der ich nur Anweisungen befolge.

Selbstorganisation: Parallel statt seriell

Apropos Anweisungen: Hier zeigt sich ein weiterer Faktor für Geschwindigkeit, wenn wir aus struktureller Sicht auf die Organisation schauen. Wenn Anweisungen ausgeführt werden, geschieht dies seriell. Der Klassiker Urlaubsantrag zeigt es: Einer stellt den Antrag und je nach Hierarchiestufen und Prozessdefinition erfolgt die Genehmigung seriell Teamleiter, Bereichsleiter, Personalabteilung. In der agilen Welt bestimmt das Team selber die Urlaubszeiten, hier liegt ja auch das Wissen um die anstehenden Arbeiten. Dass Selbstorganisation und Eigenverantwortung mit mehr Motivation einhergeht, hat schon David Marquet, der Kommandeur der USS Santa Fe, eindrücklich bewiesen. Mit verteilter Verantwortung statt hierarchischer Strukturen hat er das U-Boot innerhalb eines Jahres vom Underperformer zum besten U-Boot der US Marine transformiert. Wir sehen: verteilte Strukturen machen Organisationen grundsätzlich schneller und besser. Es sind universelle Prinzipien.

Die Voraussetzung: Glasklare Kommunikation

Warum endet das nicht im Chaos? Weil „Selbstorganisation“ ungleich „Jeder macht, was er will“ ist. Das Gegenteil ist der Fall, denn klare Kommunikation ist eine Kernkompetenz agiler Teams. Alle Beteiligten müssen ein gemeinsames Verständnis von der Aufgabe haben und wann diese als „erledigt“ gilt. „Definition of Done“ (wann ist eine Aufgabe fertig) und „Definition of Ready“ (was braucht es, damit das Team die Aufgabe erfüllen kann) sind der Kern des Agilen. Die Aufgabe wird in einzelne Schritte zerlegt, die von den Mitgliedern des Teams abgearbeitet werden. Transparent wird der Status jeder Einzelaufgabe dokumentiert. Gute Kommunikation bedeutet systemische Transparenz.

Die Kernkompetenz: Umgang mit Komplexität

Wir sehen, ohne dezentrale Strukturen wird kein Unternehmen mehr erfolgreich sein können. Warum? Weil wir in einer komplexen Welt leben, unsere übliche hierarchische Organisationsform war für vergangene Zeiten bestimmt. Sie ist so tief in unsere DNA eingegraben, dass wir sie kaum hinterfragen – darin liegt die große Gefahr. Der Taylorismus mit seiner zentralen Steuerung war ausgelegt für träge Massenmärkte. Experten definierten „Best Practices“, an die sich alle zu halten hatten. Das Individuelle wurde uns Menschen aberzogen, es störte die Effizienz. Die kommenden Jahre werden uns noch sehr viel deutlicher vor Augen führen, dass dieser Ansatz nicht mehr zeitgemäß ist. Das Prinzip des Dezentralen macht sich nämlich immer mehr breit.

Das Web 3.0 ist dezentral

Ich rede vom Web 3.0. Blockchain Technologie ist dezentral. Bitcoin mit seinem Konsensus Mechanismus wird vielleicht in hundert Jahren als die Erfindung des 21. Jahrhunderts gelten: Regeln ohne zentrale Autorität, damit fing alles an. Mittlerweile ist die Web 3.0 Szene eine Explosion an Kreativität. Hier ist 2016 eine ganz neue Organisationsform entstanden: Die sogenannte DAO: die Dezentrale Autonome Organisation. Die Idee eines Einzelnen wird in eine Community getragen, von dort wird sie konkret in etwas Reales umgesetzt. Bekanntes Beispiel: bei der Versteigerung eines der dreizehn Exemplare der amerikanischen Verfassung in der Originalversion hat eine DAO mitgeboten. Die Constitution DAO wurde innerhalb einer Woche gegründet mit dem Ziel, dass das historische Dokument für alle zugänglich gemacht wird. Es wurden 41 Million $ gesammelt. Wie? Mit den oben beschriebenen Prinzipien der Selbstorganisation. Experten finden sich zusammen und arbeiten die notwendigen Aufgaben eigenverantwortlich ab. Auch wenn die DAO die Auktion nicht gewinnen konnte, zeigt sie, was Organisationen in Selbstorganisation möglich machen. DAOs gibt es mittlerweile unzählige: von der Metaverse-App „Decentraland“ bis zur Klima DAO , eine digitale durch reale CO2-Zertifikate gedeckte Währung oder die CABIN DAO, eine neue Form der Stadtentwicklung und des Immobilienbesitzes – und das sind nur einige wenige. Wer sich einen konkreten Eindruck verschaffen möchte, wie die Arbeit abgestimmt wird, sollte auf Discord bei der Klima DAO oder beim Decentraland vorbeischauen. Zugegeben, bei DAOs handelt es sich immer noch häufig um visionäre Außenseiterprojekte. Was heute noch visionär erscheint, mag morgen schon Alltag sein: Dezentrale Organisation über die Entwicklung von Code, der dann die Regeln über die Ausführung von Smart Contracs bestimmt. Wir erinnern uns – „Regeln ohne Herrscher“.

Die großen und neuen Aufgaben unserer Zeit werden wir jedenfalls nicht mit alten Handlungsmustern bewältigen können. Zeit, neu zu denken. Welche Bedeutung DAOS bekommen werden, werden wir sehen. Nie war der Satz eines Publizisten, der vor mehr als 200 Jahren geboren wurde, zeitgemäßer als heute:

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Die Herausforderungen unserer Zeit sind groß. Die Chancen sind es auch.