Digitalisierung verändert. Alles. Auch den Tod und die Trauer.
Hinterließen wir bis vor mehr als einer Dekade maximal ein paar Fotoalben oder alte Urlaubsvideos, wird unser digitaler Zwilling immer genauer und lebt auch nach unserem Tod weiter – erst recht, wenn das Metaverse unsere zweite virtuelle Heimat werden sollte.
Aber fangen wir mit dem Hier und Jetzt an.
Zum Tod gehört der Nachlass
Die letzte analoge Generation stirbt gerade. Selbst diese Aussage stirbt nur so halb. Schon 2021 (eine aktuellere Statistik habe ich nicht gefunden) hat die Hälfte der Verstorbenen zumindest einen digitalen Account.
Wir brauchen keine hellseherischen Fähigkeiten, um vorauszusehen, dass die Zahl in wenigen Jahren auf 100% ansteigen wird. Was mit diesen Accounts geschehen soll, wird in den seltensten Fällen geregelt. Nur einer von 10 Verstorbenen hat seinen digitalen Nachlass in irgendeiner Form geregelt.
Wer den Standpunkt vertritt „mir doch egal, was nach meinem Tod mit meinen digitalen Accounts passiert“, der sollte sich genau überlegen, welche Accounts er denn so hat. Wahrscheinlich ist es den meinsten von uns wirklich gleichgültig, ob die Erben die Mailnachrichten, die Favoriten auf Netflix oder die letzte Wunschliste auf Amazon sehen. Doch was ist mit all den Text- und Sprachnachrichten, die wir im Laufe unseres Lebens mit anderen austauschen. Haben wir mal gelästert, geflirtet oder sogar eine Affaire gehabt? Gerade die Historie aus Messengerdiensten liefert sehr intime Einblicke in unser Leben, dagegen verblasst das Tagebuch. Rechtlich scheint es so zu sein, dass es sich mit den digitalen Daten verhält wie mit dem guten alten Tagebuch. Die Erben können frei darüber verfügen. Wir sollten uns also Gedanken machen, was mit welchen Informationen geschehen soll.
Nur Google und Faceboook haben Built-in Funktionen zum Nachlass
Google weiß ja bekanntlich mehr über uns als wir selber, also weiß das Unternehmen auch, wann wir wohl verstorben sind. Wenn auf keinem unserer Accounts mehr eine Aktivität festzustellen ist und unser Telefon nicht mehr bewegt wurde. Wir können festlegen, ob unser Account gelöscht werden soll oder wir können bis zu 10 Personen bestimmen, die auf diverse Google Services zugreifen dürfen. Hier sind sehr detaillierte Regelungen möglich.
Bei Facebook haben wir ebenfalls die Möglichkeit, unser Profil nach unserem Ableben zu löschen oder es in einen Gedenkzustand versetzen zu lassen. Dann kann es von einer von uns ausgewählten Vertrauensperson verwaltet werden.
Für alle anderen Acoounts, die wir so haben, müssen wir über einen Nachlassverwalter bestimmen, was damit geschehen soll. Zeigt, wie groß der Nachholbedarf bei den allermeisten Anbietern ist. Das Thema wird gerne verdrängt.
Wenn wir uns so die Möglichkeiten des Gedenkzustandes bei Facebook anschauen, dann wird noch etwas anderes klar:
Social Media wird ein Ort der Trauerbewältigung
Und schon sind wir bei den Hinterbliebenen. Das Digitale hat die Möglichkeiten der Trauerbewältigung erweitert. War es früher vor allen Dingen die Beerdigung, auf der sich die Familie und Freunde versammelt haben, werden Social Media Kanäle mehr und mehr als ein Ort der gemeinschaftlichen Trauerbewältigung genutzt. Mich persönlich berührt es sehr, wenn Freunde auf dem Facebook Profil eines Verstorbenen gemeinsame Fotos aus der Vergangenheit posten und zum Geburtstag Erinnerungen geteilt werden. Dadurch habe ich Facetten eines Menschen kennengelernt, die ich zu dessen Lebzeiten nicht kannte. Zeigt auch, dass der Gedenkzustand eines Facebook-Profils gut überlegt sein will. Wer darf dort nach meinem Tod Beiträge posten? Soll dies überhaupt möglich sein? Ihr erkennt – das Thema ist vielschichtig. Wir brauchen Zeit, die vielen Facetten wirklich zu verstehen und uns in die Situation der Hinterbliebenen hineinzufühlen.
WhatsApp Nachrichten als Einsteckalbum
Der Soziologe Lorenz Widmaier forscht zum Thema Trauer. Neben allem Digitalen ist vor allen ein Gegenstand den Hinterbliebenen besonders „heilig“: das Smartphone. Es wird so gut wie immer aufbewahrt. Aus Respekt vor der Privatsphäre des Verstorbenen wird sich häufig nicht in das Gerät eingeloggt. Oft reicht ein Auszug aus den digitalen Daten, der eine hohe persönliche Bedeutung hat: der eigene Messengerverlauf mit dem Verstorbenen. Lorenz Widmaier hat Menschen kennengelernt, die die Nachrichten ausdrucken und in ein Einsteckalbum einsortieren und dieses immer wieder anschauen.
Quelle: https://netzpolitik.org/2020/digitaler-nachlass-der-whatsapp-verlauf-ist-fuer-viele-das-wichtigste/
Eine Mutter hat erzählt, dass das Betrachten des Instagram Profils ihrer jung verstorbenen Tochter Trost spendet, weil sie sieht, wieviele schöne Momente es im Leben ihres Kindes gegeben hat.
Ein Blick in Zukunft: das Metaverse
Schon heute ist unser digitaler Fussabdruck enorm. Aus der Summe aller Daten lässt sich unser Leben auf die Stunde genau nachvollziehen. Wann wir wo mit wem uns wie lange aufgehalten haben, in welchem persönlichen Beziehungsgeflecht wir mit anderen standen. Das alles ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was die Zukunft bringt. Mit dem Metaverse wird das Internet dreidimensional, wir Menschen bekommen sozusagen einen digitalen Zwilling. Was heute schon möglich ist, zeigt das Beispiel von Jang-Ji Sung. Die Koreanerin hat ihre Tochter früh verloren. Schon 2016 (!) hat sie alle digitalen Daten, die sie von ihrer Tochter hatte, an ein Startup gegeben. Die haben aus Fotos, Sprachnachrichten, Videos und Texten einen Avatar erstellt, der nicht nur so aussah wie Nayeon, sondern ihre Stimme hatte und in ihrer indivduellen Sprache kommunizierte. Eine Mutter hat ihre Tochter sozusagen im Metaverse wieder auferstehen lassen.
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=uflTK8c4w0c
Was das psychologisch mit uns macht, können wir heute wohl nur erahnen. Ob das gesund für uns ist, weiß ich nicht. Das Beispiel zeigt sehr deutlich eines:
Daten sind menschliche Leben
Heißt konsequenterweise auch: Wenn wir diese Daten nicht löschen, wird unser digitaler Zwilling unsterblich. Hier stehen wir als Gesellschaft vor großen neuen Fragen, mit denen wir uns offen und ernsthaft auseinandersetzen müssen.
Ihr glaubt, das liegt noch weit in der Zukunft? Wie geht es Euch bei dem Gedanken, dass Amazon Alexa schon heute jede beliebige Stimme – also auch die der verstorbenen Eltern – annehmen kann. Spooky? Ich sag ja – das Digitale lässt uns über den Tod neu nachdenken.