Sind die Bilder auf Social Media Realität oder ist das KI-generierter Fake? Eine brandaktuelle Frage und gleichzeitig ein uraltes Mysterium. Wer über den Begriff Realität nachdenkt, erkennt ziemlich schnell, dass diese Frage schon uralt ist. Es kommen nur immer neue Facetten hinzu. Tauchen wir einmal ein in die Frage nach Realität.
Realität ist relativ
Wenn wir über Realität sprechen, dann reden wir gemeinhin über Dinge, die tatsächlich existieren. Ein Baum, ein Tisch, aber auch Streit, Krieg oder Verhandlungen. Verwandt damit ist die „Wahrheit“, die immer eng mit unserer persönlichen Wahrnehmung zusammenhängt. Und diese Wahrnehmung hat Grenzen. Wir haben 5 Sinne, mit denen wir die Welt wahrnehmen können. Mit Sprache drücken wir aus, was wir über die Sinne wahrnehmen.
Die Wissenschaft zeigt uns seit langem, dass die Welt und damit die Realität viel größer ist als das, was wir sehen, fühlen, riechen, schmecken oder ertasten können. Wie sonst könnten wir beispielsweise etwas über die atomare Welt erfahren? Dank unseres Intellektes sind wir in der Lage, Rückschlüsse auf die Realität zu machen, die wir nicht über die 5 Sinne wahrnehmen.
Es gibt keine einzig wahre Realität
Damit haben wir also mit den ersten Denkfehler aufgeräumt, den die meisten von uns machen. Es gibt keine „echte, wahre Realität“. Es beginnt schon bei jeder menschlichen Kommunikation. In unserer Sprache, unserer Gestik drückt sich unsere persönliche Geschichte aus. Unser Gegenüber kennt mehr oder weniger gut und interpretiert das gesprochene Wort entsprechend der eigenen Lebenserfahrungen.
Realität ist so individuell wie wir selbst
Beispiel:
Susi: Ich habe heute keinen Kaffee getrunken.
Sven: Oh, ich hole dir einen. Trinkst Du ihn mit Milch und Zucker?
Susi: Nein, ich will keinen Kaffee. Mir ist gerade eingefallen, dass ich es geschafft habe, seit einem Monat kein Koffein mehr zu mir zu nehmen.
Das klassische Missverständnis. Wäre darüber nicht gesprochen worden, wäre Sven aus dem Gespräch gegangen in der Überzeugung, dass Susi sauer auf ihn ist, weil er ihr keinen Kaffee angeboten hat. Das wäre dann seine Realität gewesen, die mit der von Susi wenig gemein hat.
Neben dem Fakt, dass wir alle die Welt anders wahrnehmen, kommt also noch das Sender/Empfänger-Problem hinzu. Das ist, wie wir gerade gesehen haben, enorm verlustbehaftet. Obwohl jeder die Worte versteht, macht der Kontext den Unterschied. Wir müssen uns wundern, dass wir Menschen einigermaßen miteinander klarkommen.
Zurück zum Digitalen. Mit Sprache können wir heute Bildwelten erschaffen, die ultrarealistisch aussehen und nur im Kopf eines Menschen erschaffen wurden. Wenn wir bei dem Sender/Empfänger Vergleich bleiben, haben wir jetzt also mehr Werkzeuge, die Gedanken in unserem Kopf anderen mitzuteilen.
Die Wirkmacht von Sprache wird größer
Auf Social Media gehen solche Bildwelten viral. Malik Afegbua hat mit seinen virtuellen Modenschauen, die von älteren Models präsentiert wurden, enorme Aufmerksamkeit erregt. Auf einmal bekommen wir einen neuen Blick auf Mode. Senioren können ja auch cool sein. Nigeria kann coole Schnitte, Farben und Stoffe in innovative Mode verwandeln.
Vor Generative AI hätten diese Bilder über Fotografie (Aufwand für Setup, Models finden) oder Zeichnen (Talent und Fähigkeit dazu vorausgesetzt) entstehen können. Nun können wir Bildwelten über Sprache entstehen lassen. Faszinierend, wie ich finde. Und vielleicht eine Chance für mehr Vielfalt.
Weniger Stereotype, Aufbrechen von Denkmustern
Das zeigt auch Katsuko Koisu, der genau wie Malik Afegbua unsere gewohnte Wahrnehmung von Älteren herausfordert. Wir stehen noch ganz am Anfang, aber vielleicht verändert sich die Welt von Social Media weg von den langweiligen stereotypen Schönheiten. Hoffen wir es.
Und noch etwas ist anders: beide sind bekannt geworden durch die Bilder, die durch Kommunikation zwischen Mensch und Maschine entstanden sind. Sie stellen nicht das eigene Leben, die eigene Person dar. Die Geschichten in unserem Kopf lassen nicht nur Bildwelten in unserer Vorstellung entstehen, sondern echte Bilder, die wir mit anderen teilen können.
Damit werden sie zu einer Art neuen Realität. Wenn wir Senioren in virtuellen Modenschauen sehen, wollen wir sie vielleicht auch in der Realität sehen. Unsere Wahrnehmung von älteren Menschen verändert sich – durch Geschichten, die sich in der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine manifestieren.
Die Kunst des Storytellings wird machtvoller denn je
Die Wirkmacht von Sprache wird in Social Media deutlich. Wir erschaffen mit Sprache VISUELLE Welten, die andere in ihren Bann ziehen. Die Kunst des Geschichtenerzählens begleitet die Menschheit von Anbeginn. Waren es einst „nur“ Worte am Lagerfreuer, sind es heute echte Bilder.
Als 2016 der Instagram Account von Lilmiquela erschaffen wurde, war dies noch speziellen Agenturen vorbehalten. Es brauchte profesionelles Knowhow, um mit Computern konsistente Figuren darzustellen. Die gleiche Person in verschiedenen Lebenslagen. Der virtuelle Influencer war erfunden worden. Wer gute Geschichten erzählen kann, die visuell überzeugen, bekommt Millionen Follower – im Falle von Lilmiquele 2,7 Millionen.
Das ist attraktiv für namhafte Kunden – wie beispielsweise BMW. Sie werben mit Lilmiquela und spielen mit Realität und Fiktion. Reale Bilder werden mit imaginären vermischt – subtil und nachdenklich. Eine neue Form von kunstvoller Werbung, die zeigt, wie menschliche Kreativität zu neuen Ausdrucksformen kommt.
Neue Ausdrucksformen menschlicher Kreativität
Faszinierend und monetär erfolgreich. Die Werbekampagnen mit Lilmiquela haben Millionen eingespielt.
KI-generierte Accounts werden deshalb Social Media im Sturm erobern. Aktuell entsteht ein neuer Hype um den Account von Aitana , einer Fitness-Influencerin. Auch sie gibt es nur im Virtuellen, sie ist kein realer Mensch.
Im Vergleich zu Lilmiquela hat Aitana „nur“ 194.000 Follower, erzielt aber schon Werbeeinnahmen von 10.000 € pro Monat. Entstanden eher aus einer Not heraus von der Werbeagentur „The Clueless“ in einer wirtschaftlichen Flaute. Mittlerweile hat Aitana schon Dating Anfragen von Prominenten erhalten, denen nicht bewusst war, dass sie keine lebende Person ist.
Die Kunst des Geschichtenerzählens – abseits der Beauty-Standards
Accounts dieser Art werden wir bald überall begegnen. Das muss keine schlechte Nachricht sein. Wer übersatt ist von den ganzen wunderschönen aber doch so sinnentleerten Glanzbildern der Social Media Community, kann vielleicht in ganz neue Welten entführt werden.
Sasper See zeigt uns seine postapokalyptische Welt. Diese zeigt keine einzelne Person, sondern ein Gefühl – umgesetzt mit KI.
vBenjamin Benichou gibt uns eine Ahnung, wie Brand-Marketing weiterentwickelt werden kann. Mit Phantasie, die ganz neue Formensprachen entwickelt. Gebäude darstellt, die es in der Realität niemals geben wird – aber vielleicht im Metaverse.
Oder auch Wendy van Santen , die Realität und Imagination mischt für eine perfekte Inszenierung von Produkten. Wir können neu denken, denn wir haben die Werkzeuge, alle möglichen Dinge miteinander zu verknüpfen. So wird auf einmal ein Flamingo die Werbefigur für Perlenschmuck.
Dieses Beispiel zeigt die verschiedenen Ausprägungen von Realität und Imagination – sowohl das Tier als auch das Produkt sind reale Gegenstände, sie auf einem Bild zu sehen ist ungewöhlich, überraschend vielleicht irritierend?
Das alles wird noch mehr Fahrt aufnehmen, wenn wir mit VR Brillen in hochauflösender Bildqualität das Metaverse betreten werden. Dann werden die Kreativen ganz neue Welten erschaffen in die wir sprichtwörtlich immersiv eintauchen können.
Braucht Phantasie eigentlich Technik?
Doch halt stop. Brauchen wir wirklich die ganze Technik, um unsere Phantasie zu entfalten? Macht es nicht gerade uns als Menschen aus, dass wir beim Lesen eines Buches die beschriebenen Geschichten in den Bildern in unserem Kopf zum Leben erwecken können?
Ja, stimmt. Wir brauchen das alles nicht, um phantastische Welten zu erschaffen und andere daran teilhaben zu lassen. Es nicht einmal ein Lagerfeuer. Es braucht nur menschliche Verbindung. Interesse am Gegenüber.
Da ist sie wieder: Die Vielfalt, die kein entweder/oder zulässt
Ausdruck von Kreativität waren vielleicht die ersten Höhlenzeichnungen. Vielleicht war Sprache schon vorher da – wir sollten da einmal einen Historiker fragen. Ist hier jetzt aber gar nicht so entscheidend. Was ich sagen möchte: Phantasie, Kreativität hat viele Ausdrucksformen.
Mit Generative AI haben wir noch eine hinzu bekommen.
Digitalisierung verändert. Alles.